Die Bilderbuch-Momente in seiner geliebten Heimat Oberstdorf konnte Karl Geiger mit Frau Franziska und Schwester Lucia so richtig genießen.
WM-Silber im Heimstadion am Schattenberg war nicht nur Geigers nächster Gipfel in einer komplett irren Winterachterbahn, sondern erfüllte den Allgäuer auch mit sehr viel Stolz. «Das hat mich extrem gefreut», sagte der strahlende Zweite über die Anwesenheit seiner Familie, die als akkreditierte WM-Helfer im Gegensatz zu den coronabedingt ausgeschlossenen Fans in der gewaltigen Skisprung-Arena dabei sein durften.
Am Sonntagabend wurde es im Schanzen-Wohnzimmer noch ein großes Stück herrlicher: Geiger ließ auf Rang zwei im Einzel den WM-Titel im Mixed, gemeinsam mit Kumpel Markus Eisenbichler, Katharina Althaus und Anna Rupprecht, folgen. Althaus und Geiger, die beide in dem beschaulichen 10.000-Einwohner-Örtchen im Allgäu aufgewachsen sind, fielen sich spontan in die Arme und konnten ihr Glück kaum fassen. Als «einfach fantastisch» beschrieb Althaus das Erlebnis, auf das die Springer seit ihrer Kindheit hinarbeiten.
Die drei Einzel-Riesenerfolge, die sein 28 Jahre alter Musterschützling Geiger allein in dieser Saison holte, hatte Chefcoach Stefan Horngacher zuvor nicht gewichten wollen. Der Österreicher nannte den Tournee-Auftaktsieg in Oberstdorf «eine herausragende Leistung», den Skiflug-WM-Titel in Planica «eine unglaubliche Leistung» und Rang zwei am Samstag hinter Weltmeister Piotr Zyla aus Polen «eine Wahnsinnsleistung». Geiger ließ bei aller Wertschätzung für die anderen Erfolge durchblicken, welch enormen Wert diese Medaille für ihn hat: «Eine WM zu Hause, das wird es genau einmal in meiner sportlichen Karriere geben.»
Den verrückten Winter, der neben denkwürdigen sportlichen Triumphen für Geiger auch die Geburt von Tochter Luisa, eine Corona-Infektion und ein sonderbares Formtief mit sich brachte, wird der Allgäuer so schnell nicht vergessen. «Ich glaube, dass das schon nochmal was Besonderes ist, dass man zum Punkt X da steht und Silber holt. Das ist wirklich was Besonderes», wiederholte Geiger bewusst. Eine große Feier am Abend entfiel nicht nur coronabedingt, sondern auch aufgrund des nahtlos dichten WM-Kalenders.
Kumpel Markus Eisenbichler, der diesmal nicht über Rang 17 hinauskam, rannte nach Wettkampfende quer durch den Auslauf und freute sich lautstark mit seinem jahrelangen Zimmerkollegen. Stolz verkündete «Eisei»: «Der Karl ist halt ein Fuchs.» Wie «Yin und Yang» hatte der Bayer das Verhältnis von Deutschlands beiden besten Skispringern einmal beschrieben. Während Eisenbichler ein hochemotionaler und impulsiver Gefühlsspringer ist, tritt Geiger sehr viel zurückhaltender auf.
Seine Gedanken schreibt der akribische Arbeiter, den Eisenbichler immer wieder als «Denker» charakterisiert, gerne und häufig in einem Notizbuch auf. Auch, um für zukünftige Situationen und Problemfälle zu lernen, «wie ich mich da vielleicht aus der Scheiße rausgeholt habe». Auf die Frage, was er zum WM-Coup von Oberstdorf in sein Büchlein niederschreibe, scherzte Geiger: «Grundsolide.»
Der packende Wettkampf, bei dem Geiger mit 103,5 und 102 Metern auf der Normalschanze zwischen Zyla und dem Slowenien Anze Lanisek landete, ist für den Deutschen auch der vorläufige Höhepunkt einer langen Reise. Bei der letzten Heim-WM 2005 in Oberstdorf hatte er noch die Fahne Kasachstans getragen und als Kind im gleichen Stadion für die spätere Sportlerkarriere geschuftet. Diese Saison erscheint Geigers hochemotionales Auf und Ab wie aus einem Drehbuch, das selbst manchem Autor zu kitschig wäre. In Kurzfassung: Pause, Gold, Vater, Corona, Tournee-Erfolg, Formtief, WM-Medaille. Was ein Winter.
Dass trotz des Zuschauerausschlusses ein paar Freiwillige auf der Tribüne zusehen konnten und bei der Siegerehrung «Karle, Karle» riefen, bewegte Geiger. «Ich bin extrem stolz auf meinen Ort. Hut ab vor der Organisation, genial. Was da auf sich genommen wurde, muss man erstmal so hinkriegen», sagte der Lokalmatador. In der zweiten Woche gibt es auf der Großschanze, wo Coach Horngacher ihn «zu den Favoriten» zählt, sogar noch die Chance auf ein filmreifes Ende des märchenhaften Triumphzuges: mit einer Einzel-Goldmedaille in dem Ort, in dem für Karl Geiger alles begann.